Brahmacharya

Das 4. Prinzip der Yamas & Niyamas (unserer 10 Inspirationen aus dem Yoga) hat mich erstmal
eine gefühlte Ewigkeit vor meinem Laptop und diversen Büchern verbringen lassen.
Von Mäßigung war da die Rede. Von sexueller Enthaltsamkeit. Und von einem Leben mit Gott.
Ganz schön große Themen…
… und wenn wir ganz ehrlich sind, klingen sie erstmal nicht wirklich nach dem, was man so unter Spaß versteht.

Die meisten von uns haben ohnehin ein schlechtes Gewissen, wenn wir nach dem zweiten Stück Kuchen greifen.
Das Letzte, dass wir da brauchen ist ein “Prinzip der Mäßigung”, um uns darüber klar zu werden, dass der Zuckerschock vielleicht nicht die Beste Idee ist.
”Danke, Brahamcharya, ich fühl mich eh schon mies.
… und nun her mit dem zweiten Stück Kuchen … … Bitte. Danke.”

Zum Thema Enthaltsamkeit … tja ...
kann sich eh jeder selber seine Meinung dazu bilden, nicht wahr?!
(ich hab so das Gefühl, die Meinungen werden hier nicht ganz so weit auseinandergehen) 😉

Ja und selbst die Sache mit Gott scheint ein wenig verzwickt, schließlich glaubt nicht jeder an Gott.
Manche beten zu Buddha, andere singen für Shiva.
Einige glauben ans Licht und andere verehren den Osterhasen.

Stellt sich die Frage, wie passt Brahmacharya in unser Leben?
… und muss man all das, was geschrieben steht, immer so wörtlich nehmen?

Nachdem ich viel gelesen und mir selber ein paar eigene Gedanken gebildet habe dachte ich mir,
ich teile diesmal meine Version dieses 4.Prinzips der Yamas und Niyamas.
Anhand eines persönlichen Beispiels ...

Bereit?
Los geht’s …

Es ist Dienstag. Ich liege auf meiner Yogamatte und fühle mich sehr, sehr tiefenentspannt und glücklich.
Ich habe die Hauptfigur, auf die wir eine volle Stunde lang hingearbeitet haben, nicht geschafft. Mein hinterer Oberschenkel zieht ganz fies bis in die Wade und während das Mädchen neben mir nach Rosen riecht, bin ich mir nicht mehr sicher, ob ich am Morgen daran gedacht habe Deo aufzutragen. Auf meiner Stirn hat sich ein dünner Schweißfilm gebildet und mein Atem braucht eine ganze Weile, bis er wieder ruhig und gelichmäßig fließt.

Vor nicht allzu langer Zeit wären alle diese Faktoren Grund genug für mich gewesen, um mich wirklich, wirklich mies zu fühlen.
So richtig „Ihr könnt mich alle Mal, ich pack jetzt meine Gummimatte und verschwinde nachhause, Deo auftragen.“ - mies.
Ich fühle mich aber nicht mies. Jetzt gerade bin ich glücklich. Wirklich glücklich und zufrieden.
Während sich mein pochendes Herz beruhigt genieße ich das Rosen Parfüme des engelhaften Wesens auf der Matte neben mir.
Warum das so ist und was sich plötzlich für mich geändert hat ist Folgendes …

Photo by Hans Reniers on Unsplash.jpg

Vor nicht allzu langer Zeit hechelte ich bei jeder Yogastunde dem Ziel hinterher, irgendeine Verrenkung zu meistern.
Ich brauche euch wohl nicht zu erzählen, dass aus der Sache mit den Beinen hinterm Kopf und anderen ulkigen Verrenkungen nichts geworden ist.
Weil ich zum damaligen Zeitpunkt fest davon überzeigt war, dass mein einziger Daseinszweck und Seelenwunsch es wäre in einer Bilderbuchgrätsche auf dem Boden zu sitzen,
hatte jede Stunde den unangenehmen Beigeschmack
versagt zu haben.
Daraus resultierte der ständige Versuch immer mehr und mehr zu erreichen. Es war nie genug.
Von Mäßigung keine Spur. Immer mehr und mehr musste es sein, die kleinen Erfolge zählten nicht.
Um eine lange Geschichte kurz zu machen, irgendwann war es dann zu viel des Guten.
Sehne beleidigt, Muskel erzürnt und das wars dann für mich einmal
mit den tiefen Dehnungen und dem ganzen Nase-zum-Knie-und-GroßeZehe-ins-Ohr-Firlefanz.

Was sich erst wie eine Strafe anfühlte, wurde zur Chance.

Es passierte in der Zeit, in der ich meine Praxis zurückschrauben musste.
Genau in den Wochen, in denen ich Haltungen modifizierte, veränderte oder sogar ganz ausließ,
während der Rest der Gruppe schwitzte und stöhnte.
In diesen kostbaren Tagen begriff ich folgendes:

Ich hatte mir nie erlaubt zu spüren (nicht darüber nachzudenken, sondern wirklich zu spüren),
wann es genug ist. Ich hatte das genug immer verpasst, war weitergeeilt, mitten hinein in eine Verletzung.
Und … ich hatte mir eingebildet zu wissen, was ich wollte. Ich dachte ich hätte einen Wunsch, ein Ziel.
Ihr wisst schon, Füße hinterm Kopf und so.
Als ich aber in meiner „Schonzeit“ den Weg auf die Matte fand, begann ich zu verstehen.
Was ich mir eigentlich von meiner Yogaeinheit wünschte, war es anzukommen. Bei mir. Im Moment. Mit dem was ist.
Ich wollte lernen was es hieß, sich in sich selbst zuhause zu fühlen.
… ich hätte es nie herausgefunden, hätte ich weiterhin meine Kopfgeschichte von „es ist nicht genug“ gelebt.

Und noch etwas, gleich direkt in Anlehnung an dieses Beispiel.
Wir alle sind oft so sehr mit uns selbst beschäftigt, dass wir keine Zeit haben all das Schöne um uns, aber auch in uns, zu sehen. Seien wir uns mal ehrlich, meist sind wir so mit uns selbst und unseren inneren Dramen beschäftigt, dass wir wenig von dem mitbekommen, was um uns herum vor sich geht.
Und nicht nur das, die Art und Weise, wie wir uns betrachten, wie wir mit uns selbst reden, ist in dem meisten Fällen Lichtjahre von lieb und verständnisvoll entfernt. Im Grunde sind die meisten von uns konstant damit beschäftigt, sich selbst in den Hintern zu treten.

In meinen Anfangszeiten auf der Yogamatte machte ich mir Gedanken über alles und jedes.
Ist das Top verrutscht? Wo ist meine Haarspange, ich sehe aus wie ein Schaf.
Hoffentlich hat die Lehrerin gesehen, wie gut ich die Haltung gemeistert habe.
… hoffentlich hat niemand gesehen, dass ich bei der anderen gemogelt habe. Usw usw …

… und irgendwann hat es dann „Klick“ gemacht.

Es war ein sehr leises „Klick“, mit ganz großer Wirkung.
Es war um die Zeit, in der ich aufgrund der Verletzung kürzer treten musste.
Während ich pausierte und alle anderen um mich herum turnten und sich verrenkten, nahm ich plötzlich den Raum um mich wahr.
Nicht das Oberteil des Mädchens vor mir, für das ich glatt meinen Lieblingspulli eingetauscht hätte.
Nicht den Handstand des Mannes rechts von mir, für den ich ihn vor Neid am liebsten gestoßen hätte … nur ein ganz kleines bisschen (…. und natürlich erst nachdem er wieder auf den Beinen war).
Ich lauschte den gleichmäßigen Atemzügen der Gruppe. Wenn wir uns alle gleichzeitig bewegten und die Bewegungen fließender wurden, klang es wie Musik. Ich spürte die Stimmung, die in der Luft lag, wenn unsere Lehrerin eine ganz besonders schöne Geschichte erzählte, bemerkte das Licht, dass durch die Fenster fiel und tanzende Muster auf den Boden malte. Ich fühlte meinen eigenen Herzschlag, und wir er sich immer wieder auf faszinierende Weise veränderte.
Ich begann zu staunen.
Ich wurde offener für das, was um mich herum geschah. Und auch für da, was in mir geschah.

Manche Menschen mögen es so formulieren, dass sie in diesen Momenten Gott in den Dingen erkennen.
Andere sprechen von Liebe oder den kleinen Wundern.
Viele mögen sagen, dass es jene Momente sind, in denen wir einfach nur präsent sind und das Schöne sehen.
Nennt es wie ihr wollt. Beginnt nach diesen Momenten Ausschau zu halten.

Was heißt das alles also für unseren Alltag?

Kommen wir zurück zu der „Kuchen - Sache“ … (ja, ganz genau, noch mal diese “Mäßigungs - Geschichte”)

Wenn ihr also zum Kuchen greift (oder zu den Chips, der Kreditkarte, dem Wein, dem zehnten Paar Schuhe, der nächsten Veranstaltung/Meeting/… um den Kalender zu füllen,…) fragt euch Folgendes:

Was ist es, das ihr wirklich wollt?

Träumt ihr von Kuchen? Prima. Genießt ihn!

Photo by Irina on Unsplash.jpg

Oft ist es jedoch nicht der Kuchen, nach dem wir uns sehnen.
Der Zucker hilft uns über Emotionen hinweg, denen wir uns einfach nicht gewachsen fühlen.
Traurigkeit, Einsamkeit, Langeweile, Frust, … um nur ein paar zu nennen.
Ein voller Terminkalender gibt uns das Gefühl genug zu sein.
Mit den zwanzig neuen Kleidungsstücken fühlen wir uns schöner.
Der Wein tröstet uns darüber hinweg, dass wir uns ausgelaugt und leer fühlen.

Manchmal wollen wir das Stück Kuchen also eigentlich gar nicht, wir wollen eine Umarmung.
Oder wir wünschen uns den Mut, die Tränen auch einmal fließen zu lassen.
Wir sehnen uns nach einem Gespräch, jemandem, der uns zuhört und versteht.
Wir wollen mehr Ruhe in unserem Leben.
Oder endlich Mal das aussprechen dürfen, was wir uns denken.
Es gibt so viele Facetten und jeder von uns ist unterschiedlich, aber die meisten Erkenntnisse
beginnen mit der einfachen Frage:


„Was will ich wirklich?“

Und wenn als Antwort dann kommt:
„Ja, das Stück Schokokuchen mit Streusel ist ganz exakt das, was ich jetzt will.“ (“Und das zweite Stück auch noch. Bitte, Danke.”)
… dann greift zu und genießt den Kuchen!!!

Erlaubt euch das Schöne in diesem Moment zu sehen. Der Geschmack auf der Zunge, der Geruch. Findet Dankbarkeit für denjenigen, der den Kuchen gebacken hat. All die Zutaten, die es dafür braucht. Die Zeit, die es benötigt um den Kuchen herzustellen und die Zeit, die ihr habt um ihn zu genießen.
Und plötzlich geht es nicht mehr um die Kalorien, oder was die Mitmenschen denken, wenn ihr euch das zweite Stück holt.
Plötzlich ist da Platz für Staunen, für Bewusstheit und Achtsamkeit und für Dankbarkeit. Für den Reichtum der direkt vor euch ist.



… und ja, Gott lässt sich aufgrund dieses Beispiels (und dahinter steh ich) also auch in einem Apfelstrudel finden. 😉


Weil ich mir nicht ganz sicher bin,
ob meine Auseinandersetzung mit Brahmacharya für euch genauso viel Sinn macht wie für mich –
hier ein paar Beispiele zur praktischen Anwendung.

Weil es am Ende nämlich ohnehin viel wichtiger ist, wie ihr selbst dieses Prinzip (er)lebt:

Übung 1

Versuche zu erkenne, in welchen Bereichen deines Lebens du in Maßlosigkeit lebst.
Wo übertrittst du die Grenze von genug immer und immer wieder?
Beim Essen, in der Arbeit, beim Einkaufen, …
… wann erreichst du den Punkt, an dem das Gefühl von Energie und Fülle einem Gefühl von Lethargie weicht?
Lerne, wann es genug ist und versuch genau dort zu stoppen.

Übung 2

Was sind die Momente, in denen du dich lebendig fühlst?
Was bringt dir Energie? Was inspiriert dich?
Ein Spaziergang im Wald, ein paar ruhige Minuten mit einem inspirierenden Buch, ein Treffen mit Freunden, …
Nimm dir Zeit für diese Dinge. Die Momente, die dich lebendig werden lassen.

Übung 3

Was ist es, dass du dir wünscht? … und woher kommt dieser Wunsch?
Entspringt er deinem Herz, oder ist es mehr ein gedankliches Konstrukt?
Ist er aus einer Gewohnheit entstanden, aus einem Muster, oder vielleicht aus etwas, das du irgendwo gesehen/erlebt hast und dann für dich übernommen hast?
Was wünscht du dir wirklich?


Wenn wir verstehen, was es genau ist,
dass wir in unser Leben einladen wollen und woher dieser Wunsch dazu kommt,
dann werden wir zum Meister unserer Wünsche und nicht zu deren Sklave.


Photo by Toa Heftiba on Unsplash.jpg

„Frag dich nicht was die Welt braucht.
Frag dich, was dich lebendig werden lässt. Und dann geh und tu genau das.
Denn die Welt braucht Menschen,
die lebendig werden.“

Howard Thurman

*AllesLiebe,
Marina ღ