Das Mädchen.

Hallo ihr Lieben,

bevor wir uns nächste Woche mit Aparigraha (dem letzten der 5 Yamas) beschäftigen, heute mal etwas anderes.
Ich möchte mit euch einen Text teilen, der vor einigen Monaten im Zuge einer Schreibübung entstanden ist.
Zuerst habe ich gezögert ihn auf meinem Blog zu veröffentlichen, aber dann dachte ich mir,
vielleicht findet sich ja der einen oder andere darin wieder…

*AllesLiebe,
Marina ღ


Das Mädchen.

Photo by Bekah Russom on Unsplash.jpg

Das Mädchen steht vor dem großen Spiegel in ihrem Zimmer.
Gedimmtes Licht der Deckenbeleuchtung taucht ihre Haut in einen blassgrauen Schimmer und lässt sie fahl wirken.
Verloren sieht das kleine Mädchen vor dem großen Spiegel aus. Einsam und sehr verloren.
Mit ihren dunklen, weit aufgerissenen Augen erinnert sie ein wenig an ein scheues Reh. Das Mädchen sieht das ängstliche Reh jedoch nicht. Sie erkennt nur all die Dinge, die sie lieber nicht sehen will. Sie sieht sie so klar und deutlich, dass sie am liebsten die Augen zusammenkneifen und sich wegdrehen würde. Stattdessen hält sie dem prüfenden Blick mit zitternden Knien stand. Ihr Spiegelbild starrt sie an und sie starrt zurück. In den Augen, die sie durch die leicht fleckige Glasfläche kritisch betrachten, versucht sie die Antworten zu finden, nach denen sie so verzweifelt sucht.

Liebe dich selbst.“ Hat sie mal irgendwo gelesen. Oder gehört. Sie weiß es nicht mehr so ganz genau.
Es klingt schön. Irgendwie nach Wärme und Geborgenheit.
„Sag mir wie das geht.“, will sie rufen. „Nimm mich an der Hand und zeig es mir.“
Aber die Worte finden den Weg zu ihren Lippen nicht. Es ist eines der vielen Rätsel, die sie schon bald aufgeben wird zu lösen.
Auf manche Fragen scheinen nicht einmal die Erwachsenen Antworten zu haben.
Der Junge aus der Klasse über ihr fällt ihr wieder ein. Der, den sie schon seit Schulbeginn heimlich mag.
„Zeig mir was ich tun muss, damit du mich magst.“, denkt sie.
Es ist so viel einfacher. Auf solche Fragen gibt es Antworten.
Ihr Blick wandert wie von selbst an ihrem Spiegelbild nach unten. Die engen Jeans kneifen um die Oberschenkel und machen das Atmen schwer, aber wenn man den Bauch einzieht geht es irgendwie. Sie hebt die Brust an und zieht die Schultern nach hinten. So wie die Frauen auf den Magazinen, die sie sich so gerne ansieht. Aber sie fühlt sich nicht wie die Frauen auf den Magazinen.
Sie haben alle lange, dünne Beine und eine blonde Mähne, die ihnen bis zu den schmalen Hüften reicht. Ihre Haare sind braun. Später wird sie sich die Haare blond färben. Irgendwann sogar abschneiden. Ganz kurz, bis unters Kinn. Der Frisör sagt, das steht ihr besser. Sie habe kein Gesicht für lange Haare. Die Tränen, die dann zuhause, dort wo es niemand sehen kann, kullern, sind die Sache wert. Der Frisör findet sie nun schön.
Sie hat sich noch nie schön gefunden, aber es von jemand anderem zu hören tut gut. Es wärmt ein wenig und die Wärme, auch wenn sie nur sehr kurzlebig ist, schmiegt sich wie eine schützende Decke um das Mädchen.
Das Gesicht, das ihr nach dem Frisörbesuch aus dem Spiegel entgegenblickt, wird ein anderes sein. Fremd und hart. Aber die Augen, die Augen werden die gleichen sein. Die unausgesprochene Frage hat sich über die Jahre tiefer in sie eingegraben:
„Nimm mich an der Hand. Zeig mir, wie ich mich selbst lieben kann.“
Der knappe Haarschnitt verdeckt einen Teil der Augen. So ist es besser.

Die Mundwinkel heben sich. Ganz so, wie sie es gelernt haben. Nur nicht zu viele Zähne zeigen.
Die Leute kommentieren ihr Lächeln, aber sie weiß nicht, wie sie damit umgehen soll. Sind es Komplimente oder machen sie sich über sie lustig? Die Aufmerksamkeit ist ihr unangenehm.

Photo by Caleb Woods on Unsplash.jpg

„Lasst mich doch so sein wie ich bin. Warum müsst ihr immer zu allem eine Meinung haben?“, will sie schreien.
Aber die Worte bleiben ihr im Hals stecken, weil sie ja selbst nicht so sein will, wie sie ist.
Die kurzen Haare fallen ihr ins Gesicht. Sie mag sie noch immer nicht, aber sie verdecken die Sicht auf ihr Spiegelbild und das ist gut. Sie ist es so müde geworden dem vorwurfsvollen Blick zu begegnen, der ihr aus dem Spiegel entgegenstarrt.
„Du hast aufgehört zu suchen.“, sagen die Augen im Spiegel. „Du hast aufgehört nach der Liebe zu suchen.“
„Aber ich tu doch was ich kann.“, entgegnet das Mädchen mit dem kurzen, kantigen Haarschnitt verzweifelt.
„Tust du nicht.“, erwidert das Spiegelbild. „Du suchst an der falschen Stelle.“
Das Mädchen versteht nicht. Es weiß nur, dass es sich mit der neuen Frisur noch fremder und verlorener fühlt, als mit den weißblonden Haaren, die es sich nach Vorbild der Zeitschriftenmodels hat färben lassen.

Zeit vergeht.
Das Mädchen dreht sie noch immer unschlüssig vor dem Spiegel.
Das mit dem Baucheinziehen funktioniert schon ganz gut. Nur was das Hinterteil betrifft lässt sich keine Lösung finden. Sie hat über die Jahre gelernt ihn mit langen Pullovern zu kaschieren. Aber für die Kartoffelsackpullover ist sie nun zu alt. Sie bieten keinen Schutz mehr. Als der Kinderarzt damals über ihre Körperform gelacht hat, und ihr damit zum ersten Mal zu verstehen gegeben hat, dass ihr Körper anders ist, dass er fehlerhaft ist, hätte er ihr auch gleich eine Anleitung für diverse Kleidungsprobleme ab der Pubertät mitgeben können. Er hat es wohl verabsäumt.
Wie so vieles andere auch.

Sie denkt wieder an den Jungen, den sie so gerne mag und beginnt sich zu schämen. Gestern hat er sich beim Baden über sie lustig gemacht. Mit dem Finger hatte er auf sie und ihre Freundin gedeutet und dabei etwas gesagt, bei dem sich das kleine Mädchen am liebsten in eine Kugel zusammengerollt und unsichtbar gemacht hätte. Bei der Erinnerung fühlt sie einen Stich in der Brust. Ihre Freundin ist gertenschlank und auch wenn sie kein strohblondes Haar hat, wie die Mädchen auf den Magazinen, sieht sie wunderschön aus.
Eifersucht ist etwas Hässliches. Das weiß das kleine Mädchen.
Sie gibt dem Jungen keine Schuld für den gestrigen Nachmittag. Für das, was dabei in ihr gebrochen ist. Er hat nur das Offensichtliche angesprochen. Aber sie ist wütend auf ihre Freundin. Darauf, dass ihr alles so leicht zu fallen scheint.
„Wenn man so aussieht, muss es einfach sein sich selbst zu lieben.“, denkt das Mädchen.
Erst später wird sie lernen, dass ihre Freundin sehr oft traurig ist. Das sie den Weg zur Selbstliebe auch nie gefunden hat.
„Vielleicht gibt es ihn gar nicht.“, wird das Mädchen dann denken, und weiterhin neidisch auf die schmalen Hüften ihrer Freundin schielen.

Nervös beginnt sie an dem knappen T-Shirt herumzuziehen, das sie für heute ausgesucht hat. Sie fühlt sich unwohl darin. Zu wenig Stoff, zu viel Haut. Sie will sich bedecken, am liebsten mit einem der übergroßen Pullover, die sie in den Schrank verbannt hat. Mit dem, der ihr bis zu den Knien reicht und dessen Kapuze ihr so weit in die Stirn fällt, dass sie manchmal das Gefühl hat unter ihm zu verschwinden. Der Pullover gibt ihr Sicherheit.
Darin fühlt sie sich nicht unförmig, oder hässlich, oder dick. Sie fühlt sich geschützt und geborgen. Niemand kann ihr weh tun, wenn sie darin verschwindet. Aber es ist Zeit den Pullover hinter sich zu lassen. Sie ist jetzt eine Frau.
Die enge Jean verursacht ihr Bauchkribbeln und sie kann nicht aufhören an dem knappen Shirt herumzuziehen. Sie fühlt sich nackt. Nackt und schutzlos.
Schließlich entdeckt sie etwas Neues, dass sie sich zum Schutz überziehen kann. Es sitzt zwar nicht so bequem wie ihr Lieblingspullover und es ist ganz schön anstrengend zu tragen, aber sie sagt sich, dass es mit der Zeit einfacher werden wird.
Mit zurückgezogenen Schultern plastert sie sich ein breites Lächeln ins Gesicht. Na bitte.
Dass es ein wenig gequält aussieht, macht ihr nichts aus. Wer lächelt wirkt stark. Wer lächelt ist nicht angreifbar. Ihre Mundwinkel heben sich noch ein wenig mehr. Die dunklen Augen beobachten alles aufmerksam. Zweifelnd.

Photo by Alexander Shustov on Unsplash.jpg

„Hilf mir mich selbst zu lieben.“
Sie denkt an eine ihrer Freundinnen. Sie ist ein ganzes Stück älter. Selbstbewusst. Sie bewegt sich auf ihren hohen Schuhen und in den engen Klamotten so, als würde sie sich darin sicher fühlen.
Das kleine Mädchen weiß nicht warum die Ältere so viel Zeit mit ihr verbringt. Erst später wird sie verstehen, dass die Freundin damals genauso unsicher war, wie sie selbst.
Das ihre Bewunderung und ihre bedingungslose Liebe der Älteren das gegeben haben, was sie selbst nicht in sich finden konnte.

Die beiden sind oft gemeinsam unterwegs.
Da die Freundin älter ist, ist sie auch schon reifer, erfahrener. Zumindest glaubt das Mädchen das.
Die Freundin weiß, was zu tun ist.
Sie weiß, wer man sein muss, um geliebt zu werden.
Eines Tages sind sie mit einer Gruppe Jungs am See. Das Mädchen bemerkt, dass ihre Freundin lauter lacht als sonst. Sie wirft ihr langes, hellbraunes Haar immer wieder von einer Schulter zur anderen und neigt den Kopf leicht zur Seite, wenn sie die Lippen aufwirft und lächelt.
In diesem Moment kommt ihr ihre Freundin fremd vor.
Dann fällt ihr noch etwas anderes auf. Sie bemerkt wie der Junge mit den dunklen Haaren ihre Freundin ansieht. So als wäre sie etwas Besonderes. So als hätte sie etwas, das sie hübscher, interessanter, liebenswerter als die anderen Mädchen macht.
Das Mädchen, das sich in dieser Gruppe sehr allein fühlt und nichts lieber getan hätte als sich ihren großen Sweater, der verloren zuhause im Schrank hängt, über die nackten Knie zu ziehen, wünscht sich, dass sie jemand auch einmal so ansieht.
Das muss die Liebe sein, nach der sie immer gesucht hat.
Sie beginnt sich ebenfalls mit den Fingern durchs Haar zu fahren. Sie legt den Kopf nach hinten, wenn sie lacht und bemerkt, dass sie ihre eigene Stimme nicht mehr erkennt. Ihr Lachen klingt fremd, die Art wie sie die Beine übereinanderschlägt fühlt sich an, als würde sich jemand anderes in ihrem Körper bewegen. Jemand, der ihr gänzlich unbekannt ist.
Ihr Blick trifft auf den ihrer Freundin.
„Fühlt es sich für dich auch so eigenartig an?“, will sie fragen. „Fühlst du dich auch wie eine Fremde in deinem eigenen Körper?“
Aber sie sagt nichts.
In dem stummen Blick ihrer Freundin erkennt sie dieselben Fragen, dieselbe Unsicherheit.
In diesem kurzen Moment hat sie das erste Mal das Gefühl nicht allein zu sein.
Dann ist der Moment zu Ende. Ihre Freundin wendet den Blick von ihr ab, stützt sich auf die Unterarme zurück und hebt ihren Brustkorb ein kleines Stück höher, während sie ein Knie leicht anwinkelt. Das kleine Mädchen ist wieder allein.
Bald wird sie sich fragen, ob dieser kurze Augenblick, in dem sie einander wirklich begegnet sind, jemals stattgefunden hat. Dieser Moment, als sie geglaubt hatte nicht einsam und verloren zu sein.

Als ihre Freundin kurz darauf aufsteht und mit dem Jungen Hand in Hand den Liegeplatz verlässt tut sie das, was sie immer tut, wenn sie Angst hat. Sie lächelt.
Es hilft nur bedingt, die Einsamkeit ist zu groß.
Aber den Junge mit den blonden Haaren und den breitstehenden Augen scheint es gerade genug zu täuschen. Er rückt näher. Seine Nähe ist ihr unangenehm, aber die Fremde, die nun wieder ihren Körper besetzt hat, freut sich. Ist es nicht das, was sie wollte?
Die Welt hat ihr gezeigt, wer sie sein muss, damit sie geliebt wird. Und es scheint tatsächlich zu funktionieren.

Jahre später steht das Mädchen wieder vor dem Spiegel.

Das kleine Kind von damals gibt es nur noch in ihrem Inneren.
Und doch ist sie noch immer genauso auf der Suche wie vor vielen Jahren.
„Zeig mir, wie ich mich selbst lieben kann.“
Sie inspiziert ihr Gesicht, ihren Körper. All die Makel, die ihr auffallen und die am liebsten verbergen würde. Als sie den Blick wieder hebt schwebt ein Lächeln auf ihren Lippen. Auch das Lächeln scheint noch dasselbe zu sein wie damals und dennoch hat sich etwas darin verändert. Es wirkt zaghaft und ein wenig traurig, aber es ist ein Lächeln. Es ist ihr Lächeln.

Photo by Annie Spratt on Unsplash.jpg

Auf der Couch im Wohnzimmer liegt ein überdimensionaler Kapuzenpullover. Sie hat vor ein paar Wochen begonnen ihn zu tragen. Auch heute wird sie ihn wieder anziehen und sich dann mit einem Buch auf der Couch einrollen. Dort, unter dem weichen Stoff, hat sie etwas wiedergefunden.
Ein längst verloren geglaubtes Stück von ihr selbst. Sie ist sich noch nicht ganz sicher, was sie damit anfangen soll, aber eines weiß sie mit Bestimmtheit:
Nachdem sie es einmal gefunden hat wird sie es nicht mehr hergeben.

Sie denkt an das kleine Mädchen zurück, das damals vor dem großen Spiegel stand.
Die Beine in knallengen Jeans. Die Farben des viel zu knappen Shirts so grell, das es tatsächlich ein bisschen von dem blassen Gesicht und den ängstlichen Augen ablenkt.
Sie möchte das Mädchen gerne in einen großen Kapuzensweater hüllen.
Nicht um es zu verstecken, sondern um ihm zu zeigen, dass es in Ordnung ist sich zu schützen. Auf sich selbst aufzupassen.
Sie möchte dem kleinen Mädchen zuflüstern, dass die schützende Wärme hinter der Kapuze nichts ist, dass man von sich stoßen muss. Das es nicht allein ist, auf der Suche nach der Liebe, will sie ihm sagen.
Und das es in Ordnung ist während dieser Suche Angst zu haben.
Sie sagt ihm nicht, dass es schön ist. Oder schlau. Oder schon sehr reif für sein Alter.
Das kleine Mädchen braucht das alles nicht.
Nach diesen Dingen hat es erst zu suchen begonnen, als die Welt es glauben ließ, dass man dadurch die Liebe findet.

Während sie den wärmenden Pullover enger um das kleine Mädchen wickelt flüstert sie ihm ins Ohr,
dass es nicht mehr zu suchen braucht.

Sie sagt ihm, dass es gefunden worden ist. Dass es geliebt ist.